Warum Virtual Engineering eine neue Dimension des Entwickelns bedeutet

© Monty Rakusen / Getty Images

Ein Interview mit Prof. Dr. Dr. Jivka Ovtcharova, Leiterin des Instituts für Informationsmanagement im Ingenieurwesen (IMI) am Karlsruher Institut für Technologie (KIT)

Frau Professor Ovtcharova, die DWIH haben sich 2018 intensiv mit dem „Innovativen Arbeiten in einer digitalisierten Welt“ auseinandergesetzt. Sie selbst sind eine Pionierin des „Virtual Engineering“, das alle Phasen der IT-Unterstützung von Produktentwicklung und Produktion umfasst. Worin liegt das besondere Potenzial des Virtual Engineering?

Es bietet Entwicklern und Produzenten die Möglichkeit, in virtuelle Welten einzutreten, anstatt Modelle bloß auf dem Bildschirm zu betrachten. Der Mensch ist beim Virtual Engineering mittendrin im Geschehen und hat sogar den Eindruck, Dinge anzufassen, auch wenn sie physisch noch gar nicht existieren. Das Virtual Engineering kann alle menschlichen Sinne ansprechen; am weitesten entwickelt ist es bisher visuell, haptisch und akustisch. Aber selbst an Lösungen für die virtuelle Nachahmung von Geschmack und Geruch wird bereits gearbeitet.

Was ist der entscheidende Vorteil des Virtual Engineering?

Die Interaktion aus der Perspektive des jeweiligen Individuums: Dieses nimmt die Szenerie mit seinen ganz persönlichen Empfindungen wahr. Deshalb bedeutet das Virtual Engineering eine neue Dimension der Ingenieurtätigkeit und der Interaktion von Mensch und Maschine. Es geht um einen wichtigen Schritt weg von den Standards der Massenproduktion, zurück zu individuell
geprägter Herstellung. Wenn Sie zum Beispiel ein Fahrzeugmodell lediglich im CAD („Computer Aided Design“)-System darstellen, sehen Sie auch nur das Modell und sonst nichts. Beim Virtual Engineering bewegen Sie sich stattdessen in der Umgebung des Fahrzeugs und wählen sehr individuell aus, wie sie es betrachten möchten – wie ein Kameramann, der durch seinen persönlichen Blick einen Film einzigartig macht.

Was sind weitere Vorteile für menschliche Tätigkeiten?

Der Mensch wird in seinen Entscheidungen entlastet und muss dafür nicht in Bits und Bytes denken können. Für den Entscheidungsprozess ist es wichtig, dass er alles, was er benötigt, gleichzeitig präsentiert bekommt. Das ermöglicht die Situation im Virtual Engineering, die die menschliche Intuition so anregt, dass eine Entscheidung schnell getroffen werden kann. Wir leben in
einer sehr dynamischen Welt und können nicht alles bis zum Letzten analysieren, besprechen und planen.

Geben wir vielleicht zu viel Verantwortung an die Computer und Maschinen ab?

Nein, denn wie beschrieben führt die Entwicklung eher zurück zur menschlichen Individualität. Viele interpretieren die technische Entwicklung falsch. Es ist nicht so, dass uns die Maschinen die Arbeit wegnehmen. Sie übernehmen lediglich bestimmte Jobs. Eine Jobbeschreibung ist immer nur eine Beschreibung auf Zeit; die Jobs bekommen eine andere Bedeutung.

Jivka Ovtcharova
"Warum sollen Roboter nicht die Dinge erledigen, bei denen Menschen mit der Zeit ohnehin ungenauer arbeiten, etwa weil sie müde werden? Es gibt genügend andere Aufgaben, die wir Menschen besser als die Maschinen erledigen, zum Beispiel durch unsere Intuition. Eine Maschine hat kein Bauchgefühl."
Prof. Dr. Dr. Jivka Ovtcharova, Leiterin des Instituts für Informationsmanagement im Ingenieurwesen (IMI) am Karlsruher Institut für Technologie (KIT)

Im Dezember 2018 haben Sie an einer Diskussionsrunde des Deutschen Wissenschafts- und Innovationshauses (DWIH) Moskau zum DWIH-Jahresthema „Innovatives Arbeiten in einer digitalisierten Welt“ teilgenommen und dabei von der Digitalisierung verursachte soziale Veränderungen angesprochen. Warum ist Ihnen dieses Thema wichtig?

Jeder Mensch sollte unabhängig von seinem Alter, Geschlecht, Glauben oder Bildungsabschluss die gleichen Möglichkeiten haben, von der Digitalisierung zu profitieren. Darauf müssen wir mit entsprechenden Bildungschancen reagieren. Ein Buch als E-Book zu verkaufen ist noch keine digitale Bildung. Wir müssen stattdessen mehr Orte schaffen, an denen Menschen sich
über digitale Technologien austauschen und mit ihnen interagieren können. Öffentliche Räume, in denen interessante Kurse und spannende Vorführungenen stattfinden und in denen sich auch Start-ups ungezwungen ausprobieren können. Das alles hilft, unnötige Ängste vor der Digitalisierung abzubauen. Solche Bildungszentren brauchen wir nicht nur in den großen Metropolen,
sondern besonders in eher ländlichen Räumen. Wir müssen die digitale Bildung in die Fläche bringen und die Menschen für den Wandel der Arbeitswelt qualifizieren. Wer die gleichen Fähigkeiten hat, hat auch die gleichen Chancen.

Mehr erfahren

DWIH-Jahresbericht 2018

Dieser Artikel wurde in der Druckausgabe des DWIH-Jahresberichts 2018 veröffentlicht. Laden Sie hier die PDF-Datei herunter oder besuchen Sie die Pageflow-Version des Berichts.